Zwei Geschichten voller Leid und Tragik präsentiert der Verlag ZYX Musik in einem 2004 erschienenen Hörbuch. Erzählt wird von überforderten Menschen, die sich selbst und ihrer Verantwortung für ihre Mitmenschen nicht gerecht werden. Ein wahrer Regen menschlichen Versagens prasselt auf den Leser nieder.
Die beiden Geschichten "Bahnwerter Thiel" und "Die abgekürzte Chronik meines Lebens" von Gerhard Hauptmann sind auf zwei CDs erschienen. Gesprochen werden sie von Mario Adorf und Anja Hauptmann, der Enkelin des Autors.
Mario Adorf verleiht "Bahnwerter Thiel" seine Stimme. Er ist ein pflichtbewusster Mensch, der regelmäßig in die Kirche geht und verlässlich seine Arbeit macht. Nachdem seine erste Frau stirbt, heiratet er ein zweites Mal. Mit beiden Frauen hat er jeweils einen Sohn.
Thiel pendelt seelisch und gedanklich zwischen beiden Frauen hin und her: Bei seiner Arbeit denkt er an seine erste verstorbene Frau Minna. Zuhause dagegen muss er sich seiner zweiten dominanten Frau Lene beugen: "Eine harte herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale Leidenschaftlichkeit." Mit diesen Worten umschreibt der Autor Lenes Charakter.
Den Einfluss beider Frauen auf Thiel beschreibt er so: "Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig", schreibt Hauptmann in seinem typischen umständlichen und veralteten Schreibstil. Tiel verfällt ihr mehr und mehr. Er ist nicht in der Lage, ihr Widerstand entgegenzusetzen.
Dabei werden seine beiden Söhne immer nur jeweils von einem Elternteil geliebt: Er liebt seinen Sohn Tobias aus der Ehe mit Minna. Doch Tobias ist krank, schwach und zurückgeblieben. Lene dagegen hasst Tobias. Sie hat nur Augen für ihren gemeinsamen Sohn mit dem Bahnwerter Tiel.
Tiel ist genauso schwach wie sein erster Sohn. Dagegen färbt Lenes Stärke auf den zweiten Sohn ab. Die Rollen sind also klar verteilt. Der Bahnwerter ist nie in der Lage, seine eigene, sowie die Unterdrückung von Tobias durch seine Frau zu stoppen. Hilflos und schwach steht er den Problemen gegenüber, weil er der starken Lene so verfallen ist, dass er ihr nicht widersprechen kann.
Selbst als er Lene dabei erwischt, wie sie Tobias schlägt und beschimpft, hat er nicht die Kraft gegen sie einzuschreiten. Er ist ihr so unterlegen, dass er sie dafür nicht einmal zur Rede stellt.
Dieses düstere Szenario muss ja fast zwingend in Konflikten und einem Eklat enden. So nimmt das ganze Unglück seinen Lauf. Die Katastrophe nimmt bei Tobias ihren Anfang. Dadurch gerät der ruhige Beamte völlig außer Kontrolle!
Die Machart des Hörbuchs ist gut. Immer wieder wird die Erzählung von trauriger Musik und Geräuschen von Zügen begleitet.
Mit seiner rauhen, tiefen und brummigen Stimme, vermag der Sprecher das Wesen des ruhigen, aber ziemlich schwerfälligen Beamten gut darzustellen. Auch die Passagen, in denen sich die Dinge zuspitzen meistert er gut. Er brüllt und schreit die Verzweiflung des geschundenen Tiel mit aller Kraft heraus.
Der Roman ist ziemlich traurig und melancholisch. Die Sprache Hauptmanns ist dabei bleiern, altmodisch und umständlich: So verwendet er Vokabeln wie: Zu Bette gehen, Frauenzimmer, Weibe, Altare und anderes mehr.
In seinem abgrundtief traurigen, düsteren und depressiven Werk greift der Autor unlösbare menschliche Probleme und Konflikte auf. Das tut er auch in der zweiten Geschichte "Die abgekürzte Chronik meines Lebens", die von Anja Hauptmann gesprochen wird. Dabei geht es um einen Waisenknaben, der in verschiedenen Familien aufgenommen wird und dort aufwächst. Auch seine Kindheitserfahrungen sind tendenziell negativ, obwohl auch einige positive Erlebnisse aus seiner Kindheit erzählt werden.
Diese unglaublich traurigen Geschichten passen zum trüben und tristen herbstlichen Novemberwetter. Doch Hauptmann übertreibt es etwas mit den Depressionen. Mancher Hörer wird sich wohl fragen: Wie kann der Autor das seinen Lesern bloß antun? |