Schwester S. und der Käfer: Die Verwandlung
Die Vorstellung ist etwas gewöhnungsbedürftig: Die Soft-Rapperin Sabrina Setlur liest Franz Kafkas berühmte Kurzgeschichte "Die Verwandlung", an der sich bereits Generationen von Deutschleistungskurs-Schülern abgearbeitet haben. Das Konzept, das hinter dieser zunächst irritierenden Kombination steht, nennt sich "Reading Stars". Die Hörbücher der Reihe werden in der Schweiz von readINC produziert und in Deutschland vom Eichborn Verlag vertrieben.
Ein Blick in die bislang sehr überschaubare "Liste" der Künstler, mit denen das Projekt bereits realisiert wurde, lässt spontan den Verdacht aufkommen, hier werde mal wieder auf Teufel komm raus -zur Not eben auch mit hoher Literatur- PR betrieben. Außer Kafkas "Verwandlung" von Schwester S., wie sich die Sängerin zu Beginn ihrer Karriere nannte, kann sich das geneigte Publikum noch von H.P. Baxxter Kurzgeschichten von Thomas Bernhard vorlesen und kommentieren lassen. Den "Scooter"-Frontmann und die Rapperin verbindet zunächst einmal die Teilnahme am Vorentscheid des Grand Prix Eurovision de la Chanson im Jahr 2004. Darüber hinaus scheinen beide den Zenit ihrer Karriere bereits überschritten zu haben.
Aber zurück zum ambitionierten literarischen Projekt: Man wolle, so erklärt der Text auf dem CD-Cover, Einblicke in die Persönlichkeit eines prominenten Künstlers eröffnen und verspricht der jugendlichen Zuhörerschaft die Möglichkeit, diesen von einer Seite kennen zu lernen, "die dir bis jetzt verborgen blieb, einer Seite, die dich faszinieren wird". Nun gut, es kann gewiss nicht schaden, an Setlur andere Talente zu entdecken als diejenigen, die in Hinblick auf eine vorübergehende Liaison mit Boris Becker im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen.
Also reingehört und - Überraschung: Wer erwartet hat, dass Setlur Kafkas Text nun nach allen Regeln der Kunst für den popkulturellen Gebrauch zurecht modellieren würde, wird enttäuscht. Die Rezitatorin enthält sich jeden zielgruppenorientierten Kommentars. Sie liest die Geschichte von Gregor Samsa, der sich eines morgens nach dem Aufwachen - in einen Käfer verwandelt- wiederfindet, mit sorgfältiger Aussprache, betont schlicht und ohne den aufgesetzten Willen, dem ganzen einen persönlichen Stempel aufzudrücken. Der regelmäßige, ruhig fließende Rhythmus ihres Vorlesens unterstreicht die lakonische Schlichtheit des Kafkaschen Wortlautes. Er steht in effektreichem Kontrast zu den zwischen Verzweiflung und fatalistischer Ergebenheit schwankenden Bemühungen des Protagonisten, sich seiner Familie mitzuteilen. Die fühlt sich von ihm in seiner veränderten Gestalt zunehmend bedroht. Durch den Verdienstausfall des Sohnes außerdem im wirtschaftlichen Niedergang begriffen, leiden die Familienangehörigen zunehmend unter den psychischen Strapazen, die Gregors Verwandlung bedeutet. Sie werden dadurch ihrerseits für Gregor zur Gefahr für Leib und Leben. Das Recht auf Existenz wird dem Verwandelten schließlich abgesprochen: "Weg muß es", rief die Schwester, "das ist das einzige Mittel, Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß es Gregor ist".
Mit dunkler Stimme, deren angenehme Wirkung durch das leichte Lispeln der Sprecherin allerdings gelegentlich etwas beeinträchtigt wird, trägt Setlur solche Passagen in betont unaufgeregtem Tonfall vor. Dies lässt dem Hörer die Möglichkeit, seinen eigenen Zugang zu Kafkas Text zu finden. Was es allerdings - wie versprochen- konkret an Einblicken in die Persönlichkeit des "reading star" vermittelt, ist schwer festzustellen. Vielleicht zeugt die zurückhaltende, aber sichere Art und Weise, in der Setlur vorträgt, einfach von einem Respekt der Künstlerin gegenüber dem von ihr gelesenen Werk . Dieser Respekt bewahrt sie auch davor, Kafkas Geschichte zwecks Imagepflege zielgruppengerecht aufzumöbeln. Setlur erliegt auch nicht der Versuchung, beim Vorlesen krampfhaft interpretatorische und sprecherische Fähigkeiten unter Beweis stellen zu wollen.Und dies sagt - zusammengenommen - ja schon einiges über sie aus.
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