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  Blind sein heißt kämpfen : Stadt der Blinden

"Alle meine Bücher sollten als Hörbuch erscheinen, denn ich habe einen narrativen Schreibstil. Ich formuliere meine Texte so, daß man sie gut sprechen kann, mit vielen Dialogen, denn ich verstehe mich als Erzähler."
Vielleicht sollte man José Saramagos Buch "Die Stadt der Blinden" wirklich als Hörbuch in den Recorder einlegen und sich nicht durch milchiges Weiß mit leichtem Grauschleier hindurchblättern. Mit geschlossenen Augen läßt einen die Spannung des von Reiner Unglaub kongenial vertonten Romans nicht los. Ein Grund dafür ist sicherlich, daß der Münchener Sprecher selbst blind ist und das Manuskript von Brailleschrift abfingert. Für ihn ist Blindheit etwas Alltägliches.
Im Oktober 1998 wurde José Saramago mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Der portugiesische Schriftsteller hat sich als kritischer Geist profiliert, der aus seiner sozialistischen Gesinnung keinen Hehl macht. Sein Buch "Die Stadt der Blinden" war aber schon ein Bestseller, bevor Saramago den begehrten Preis erhielt.
Unter Blinden, ihren Angehörigen und Freunden ist José Saramagos Roman aber nicht unumstritten. Das Bild, das er von Blinden zeichnet, ist vielen zu negativ; die Blinden in seinem Buch sind unselbständig, schmutzig und grausam. Die Blindheit beschreibt er als schweren Schicksalsschlag, der die Menschen - vielleicht verdienterweise - ins Verderben reißt. Von einer Sekunde auf die andere erblinden die Bewohner einer Stadt, eines ganzen Landes, und das Chaos zieht ein.
Das Unheil beginnt an einer Ampel in einer namenlosen Stadt. Das Signal schaltet auf Rot, die Autos halten an. Als es Grün wird, bleibt ein Auto stehen. Eine Panne, Benzinmangel? Ein Helfer öffnet die Wagentür und hört den Fahrer immer denselben Satz wiederholen: Ich bin blind, ich kann nichts mehr sehen. Vor seinen Augen ist nichts als milchiges Weiß.
Ein hilfsbereiter Zeitgenosse fährt den erblindeten Autofahrer heim. Seine Frau begleitet ihn später zu einem Augenarzt. Noch am selben Tag erblinden alle, die dem Blinden in die Augen geblickt haben: Seine Frau, der Augenarzt, der "hilfsbereite" Mitmensch, der kurzentschlossen das Auto seines Opfers gestohlen hat, und alle, die an jenem Tag die Arztpraxis besucht haben. Nur die Frau des Augenarztes, die behauptet, erblindet zu sein, um bei ihrem Mann bleiben zu können, kann weiterhin sehen.
Die Regierung läßt alle Blinden in einer Irrenanstalt einsperren, scharf bewacht von Militär. Keiner darf die Anstalt verlassen, niemand betritt sie, um zu helfen. Immer mehr Blinde werden dort eingesperrt. Die Zustände in der Irrenanstalt werden immer schlimmer.
"Die Stadt der Blinden ist das wohl bewegendste Buch, das ich geschrieben habe", stellt Saramago - selbst ein wenig beeindruckt - fest. Meisterhaft ist es ihm gelungen, tief verschüttete Urängste zu wecken und die Spannung immer weiter zu steigern. Selbst als die Zustände unter den Blinden vollkommen unerträglich sind, findet noch eine Steigerung statt. Und als die Anstalt schließlich nach einem Machtkampf zwischen den Bewohnern abbrennt und die Blinden flüchten, weil draußen kein Militär mehr steht, da ist die ganze Stadt schon erblindet. Hilflos irren die Blinden durch die Straßen, getrieben von der Gier nach Eßbarem und dabei einzig auf den eigenen Vorteil bedacht.
"Die Blindheit ist eine Parabel", erklärt Saramago, "Unser Verstand ist blind. Wir sind nicht fähig, die Welt um uns herum zu sehen und die Wirklichkeit zu erkennen."
Auf die Frage, wieviel Kontakt er vor dem Verfassen seines Buches mit Blinden gehabt habe, antwortet der Autor, er habe einige Literatur über Blindheit gelesen. Vor allem medizinische Fachbücher hat er gewälzt. Der Kontakt zu Blinden selbst sei - so Saramago - für ihn nicht nötig gewesen, denn er habe ja nicht die physische Blindheit beschreiben wollen, sondern eine Blindheit des egoistischen Geistes.
"Blind sein, heißt kämpfen müssen", schreibt der Nobelpreisträger. Jeder Blinde kann ein Lied davon singen, welchen Kampf ihm der Alltag abverlangt. Die Blinden in Saramagos Buch aber kämpfen rücksichtslos gegeneinander, gegen ihre Umwelt und nur allein ums nackte Überleben.
"Waren wir nicht vielleicht schon blind, ehe wir erblindet sind", fragt sich einer und stellt dem Leser damit die Frage, ob nicht vielleicht auch er schon erblindet sein könnte. Mit seiner Metapher der Blindheit verurteilt Saramago auf eindrucksvolle Weise den vorherrschenden Zeitgeist: Vorwärts ohne nach links oder rechts zu schauen!
Nicht immer ist die Geschichte logisch stringent vorgetragen; aber beeindruckend ist nicht nur Saramagos Sprachgewalt, sondern auch seine mal ironische, mal tiefschürfend-philosophische, mal dramatische, mal gefühlsmäßig-ergreifende Beschreibung der Zustände. Sein Buch ist eine zugespitzte Gesellschaftskritik am kapitalistischen System, das wir alle miteinander tragen.
"Die Stadt der Blinden" wurde von Ray-Güde Mertin aus dem Portugiesischen übersetzt. Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel "Ensaio sobre a cegueira". Ray-Güde Mertin begleitete den Autor auch auf seinen Vorlesereisen durch Deutschland, um ihn als Dolmetscherin zu unterstützen. Sie kannte auch das Hörbuch und lobte es als "wirklich beeindruckende und gelungene Vertonung des Werks".
Wegen des Nobelpreises kommt Saramago derzeit nicht zum Schreiben. Als nächstes Projekt will er die virtuellen Welten der modernen Multi-Media-Technik mit dem Höhlengleichnis des griechischen Philosophen Platon vergleichen. Er hofft, spätestens dann wieder Muße zum Schreiben zu finden, wenn ein neuer Literatur-Nobelpreisträger benannt sein wird.
"Blinde nehmen alles in die Hand", schreibt Saramago und nimmt das Geschriebene auch ernst. Mit einem langen Händedruck verabschiedet er sich, nachdem er die Frage beantwortet hat, ob sein Buch die Ängste vor der Blindheit nicht unnötig verstärkt: "Ich schüre diese Ängste nicht; wir leben ständig mit unseren Ängsten: der Angst zu versagen, der Angst vor Einsamkeit, vor dem Tod und auch der Angst vor dem Leben. Wir wissen ja nicht, was es morgen bringen wird."

José Saramago, "Stadt der Blinden"
gelesen von Reiner Unglaub
Regie: Hans Eckardt
© 1998, Print-Erstveröffentlichung 1995
6 Wortcassetten, ungekürzter Text 670 Minuten
Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen, D-35085 Beltershausen
ISBN: 3-89614-005-1

 

 

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