Wie eine kleine Unregelmäßigkeit eine ganze Familie auf den Kopf stellt, zeigt der Roman "das Muschelessen". Das 1991 mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnete Erstlingswerk von Birgit Vanderbeke ist nun als Hörbuch im Audiobuch Verlag Freiburg erschienen. Die Autorin liest auf 3 CD`s Ausschnitte von ca. 170 Minuten.
Die 1956 im westfälischen Dahme geborene Schriftstellerin zieht die Zuhörenden gleich zu Beginn der Lesung in ihren Bann. Ausgangspunkt ist eine harmlose Familienszene, in der man in angespannt-feierlicher Stimmung auf das Familienoberhaupt wartet. Dessen Beförderung soll in alter Familientradition mit einem Muschelessen gefeiert werden. Doch der Vater kommt nicht. Das Unbehagen darüber, und was weiter geschieht, schildert die Autorin in einer durchweg dezent zurückhaltenden Tonlage, aber dennoch spannend und mitreißend.
Die Erzählerin läßt den Leser im Unklaren darüber, warum der Familienvater nicht erscheint. Klar ist nur, dass etwas Ungutes passiert sein muß. Der Hörer wird hineingezogen in diese ungute Stimmung, in die bangen Gedankengängen der Figuren. Und voller Fragen wird er hinabgezogen in immer dunklere Abgründe einer gutbürgerlichen Familiensaga. Schicht um Schicht entblättert Vanderbeke schaurige Geheimnisse, die man hinter der perfekt funktionierenden Fassade einer "richtigen Familie" eigentlich nicht vermutet. Man geht ins Theater, hört Schubert, aber keine A-Ton-Musik, trinkt einen trockenen Cinzano, denkt logisch und pflegt einen elaborierten Sprachcode. Alles andere, dem der Geruch von "armen Leuten" der Unterschicht anhaftet, wird sanktioniert. Subtile Unterdrückungsmethoden des Vaters korrespondieren auf der Gegenseite mit dem erst zaghaften, aber dann deutlicher werdenden Abschütteln eines rigiden Regelkorsetts. Schockierende Rückblicke in die Familienstruktur machen dem Leser das verschämte Bemühen um freie Gefühls- und Gedankenäußerungen verständlich. Sie verdrängen immer mehr die tief sitzende Furcht, dass der Vater zur Tür hereinkommen und sein logisch abgewägtes Strafmaß verhängen könnte. Doch er kommt nicht, - nur das Telefon klingelt irgendwann. Durch subtile Akzentsetzungen in Tonlage, Rhythmus umd Sprechtempo versteht es die Romanschriftstellerin in dem Hörbuch, die Tiefen ihres Textes auszuloten. Indem sie tief und auch weit ausholt, Entferntes metaphorisch geschickt verknüpft, erzeugt sie Spannungen, allerlei Fragen und Vermutungen.
Vanderbekes Hörbuch ist kein deftiger Freizeitspaß für den schnellen Genuß. Man muß deutlich hinhören, um es zu lieben, so wie man Schubert oder einen trockenen Cincano liebt.