Paris ist ihr Zuhause. Hier lebt sie, hier arbeitet sie, hier hat sie sich verliebt. Er glaubt sich in Dänemark heimisch zu fühlen, auch er hat seine alte Heimat lange hinter sich gelassen. Sie beide sind Emigranten, die mit Tschechien nur noch die Erinnerung verbindet. Milan Kunderas Roman "Die Unwissenheit" ist im Herbst 2001 im Hörverlag als Hörbuch erschienen. Rufus Beck trägt die parallel verlaufenden Lebenswege von Irena und Josef vor. Sie kennen sich flüchtig aus Tschechien, doch Josef erinnert sich nicht mehr an die Frau, die ihn am Pariser Flughafen anspricht: "Kennen wir uns nicht aus Prag?". Beide kehren nach langen Jahren der Emigration wieder in ihre alte Heimat zurück. Am Flughafen tauschen sie Telefonummern aus, und als Josef in seinem kleinen Hotelzimmer einen Anruf von der unbekannten Bekannten erhält, lässt er sich nicht anmerken, dass er sich nicht erinnern kann. Ihre kurze und heftige Liebe bricht schließlich grausam auseinander, als sie seine Lüge durchschaut.
Trotz dieser Liebesthematik ist "Die Unwissenheit" keine Liebesgeschichte. Das Zusammentreffen von Josef und Irena schildert der Autor nur am Rande. Den Großteil des Romans bilden mosaikartig zusammengesetzte Erzählstränge, die teils tiefsinnig-philosophisch Fragen aufwerfen, mit denen Menschen in Europa gerade heute konfrontiert sind. Was ist Heimweh, was ist Sehnsucht, und wie baut ein Mensch sich seine nationale Identität auf? Sowohl Irena als auch Josef müssen sich von ihren Landsleuten den Vorwurf anhören, ihr Vaterland verraten zu haben. Und niemand in Tschechien will hören, dass auch sie es nicht leicht hatten, als sie sich in einem anderen Land ein neues Leben aufgebaut haben.
Die vielen Zeitsprünge, Rückblenden, Gedanken- und Traumschilderungen lassen dieses Hörbuch oft verwirrend erscheinen. Die Geschichten von Josef und Irena verlaufen so parallel, dass der Hörer zum Teil nicht weiss, in wessen Lebensgeschichte er sich gerade einhört. So schildert Beck mit viel Einfühlungsvermögen einen lange zurückliegenden Selbstmordversuch Irenas, direkt im Anschluss blickt Josef auf seine Frau, die in Dänemark im Sterben liegt. Für kurze Zeit bleibt unklar, welche Frau er betrachtet. Blickt Josef auf die sterbende Irena? Unnmöglich, denn die beiden haben sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht getroffen. Oder hat die Erzählung erneut einen Zeitsprung gemacht und ist in der Gegenwart gelandet?
Das Stilmittel der Rück- und Überblenden setzt Rufus Beck sprachlich hervorragend um, er will Verwirrung schaffen, indem er nur kurze Pausen macht und fast unmittelbar von einer Geschichte in die nächste wechselt. Das Publikum wird herausgefordert, sich zu konzentrieren und sich einzulassen auf dieses Puzzlespiel der Erinnerungen, die im Ganzen eine Einheit bilden. Gleichzeitig stellt sich dem Zuhörer allein durch die Erzählweise die Frage, die auch thematisch den Roman bestimmt: Wie wertvoll oder austauschbar sind unsere Erinnerungen? Welche Mechanismen schalten sich ein, um Dinge aus der Erinnerung zu verbannen und andere im Nachhinein hervorzuheben?
Rufus Beck spricht dieses Hörbuch, ohne seine Stimme merklich zu verfremden. Ganz anders als in
Harry Potter
nimmt er hier eher subtil Sprecher-Rollen ein: Er spricht die Gedanken Irenas aus und schafft es hervorragend, stets eine Spur Zweifel und Unsicherheit mit einfließen zu lassen. Auch Josefs Gleichgültigkeit setzt Beck sprachlich gekonnt um, ohne den Erzählfluss zu unterbrechen. Die Hörbuch-Version von Milan Kunderas "Die Unwissenheit " regt seine Hörer zum Nachdenken an. Wer sich von den teilweise anstrengenden Unklarheiten in der Geschichte nicht abschrecken lässt, dem wird dieses Hörbuch ebenso in Erinnerung bleiben wie die Fragen, die es aufwirft.
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