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  Gernhardt rechtfertigt Blutwürste: Lokal-Termin

"Was soll denn der Scheiß?" Es ist just diese Frage, die Robert Gernhardt alias Norbert Gamsbart in dem Audiobuch "Lokal-Termin" zu beantworten versucht. Die 78-minütige Autorenlesung ist seinem Werk "Glück Glanz Ruhm" entnommen. Corinna Zimber hat dabei Regie geführt.
Recht verzweifelt wurde dem Gelegenheitsschriftsteller Gamsbart diese Frage von seiner weiblichen Begleitung während des gemeinsamen Besuchs der Ausstellung "Kunst wird Material" in der Berliner Nationalgalerie gestellt. Ein Glaskasten mit vier luftgetrockneten Blutwürsten von Joseph Beuys ließ es so weit kommen. Gerade als Gamsbart ausholen will, rast die Holde jedoch in männlicher Begleitung davon, allerdings nicht ohne ihn mit dem Zuruf "Mach mal!" in seinem Erörterungsdrang zu bestärken. Nicht unabsichtlich setzt sich Gamsbart daraufhin an einem Freitagnachmittag in eine gewisse "Taverne Wachtelstubb" in Frankfurt-Bockenheim und gibt sich bis zum Zapfenstreich einem wahrhaft Kunst verteidigenden Schreib-Hype hin.
"Keiner liest Gernhardt besser als Gernhardt", ist auf der Rückseite des Hörbuchs zu lesen. Schon die ersten Minuten lassen daran keinen Zweifel aufkommen. Denn die von Gernhardt vorgetragenen Ausführungen seines alter Egos offenbaren inhaltlich wie sprechtechnisch eine unnachahmlich pointierte Virtuosität. Gernhardt ist voll in seinem Element.
"Der Schreibende", wie er seinen Protagonisten nennt, geht der genannten Frage auf den Grund, indem er die "Ikonografie" der "Taverne Wachtelstubb" (köstlich, wie er das sagt) untersucht. So nimmt er sich nun jedes noch so unbedeutende Teil der griechisch-altdeutschen Einrichtung des Lokals vor und unterzieht es einer genauen kulturwissenschaftlich- kunstgeschichtlich-literarischen Analyse. Dass der geneigte Besucher beim Hereinkommen "Schön gemütlich hier!" sage, sei demnach das Ergebnis des Einflusses von Dürers Kupferstich von 1514 und des Nostalgiebegriffs des Romantikers Wackenroder. Die Existenz von Plastiktrauben hingegen trage dazu bei, dass der Besucher sich örtlich entrückt fühle. Und das altdeutsch-rustikale Einrichtungsmoment sei primär die Folge des straffen Mittelalter-Images der Binding-Römer-Brauerei nach deren Übernahme durch den Oetker-Konzern.
Es ist herrlich, zu lauschen, wie Gamsbart über eine Stunde lang bewusst nicht Impressionismus, Expressionismus und Kubismus behandelt und bedeutende "Jünglinge" wie den Memoirenschreiber Wilhelm von Kügelgen völlig außer Acht lässt. In regelmäßigen Abständen schwärmt er charmant-weltfremd für die schöne Adressantin seiner Abhandlung. Eine Frau mittels spezifisch-wissenschaftlicher Kompetenz zu erobern - der Traum eines jeden schüchternen Intellektuellen!
Die Art, wie Gernhardt dieses ironisch vermengt und nebenher noch kommentiert, welche Alkoholika sich der Schreiber wann und mit welchem Gestus zuführt, macht diesen "Lokal-Termin" zu einem süffisant witzigen, dabei jedoch faszinierend tiefsinnigen Hörgenuss. Gernhardt vergegenwärtigt die Qualität des Kunstbegriffs.
Was sind seine Essentials? Kunst ist überall. Und wenn sie auch nicht - siehe "Taverne Wachtelstubb" - verstanden wird, so macht es dem kunstbeflissenen Rezipienten doch umso mehr Spaß, sich schwelgerisch darüber auszulassen. Gernhardt lässt Gamsbart Kunst als Sinnstifter in einer entgötterten Welt voller "verstörender Eindeutigkeit" definieren. Das ist großartig!
Aber zurück zu den Blutwürsten: Was soll das denn nun alles bedeuten? - "Hoch oben auf dem Berge, da steht ein Karton, da machen die Zwerge aus Scheiße Bonbon."

Robert Gernhardt, "Lokal-Termin"
Gelesen von Robert Gernhardt
1 CD, Spieldauer 78 Minuten 06
Audiobuch-Verlag, Freiburg
ISBN 3-550-09072-2
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