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  Wacht auf: Das Feuer des Heraklit

"Mein ganzes Leben habe ich versucht, zu rufen: Wacht auf, wacht auf!", sagt Erwin Chargaff. mit brüchiger Stimme liest der berühmte Naturwissenschaftler aus seinen Lebenserinnerungen "Das Feuer des Heraklit". 2002 sind sie - vom Autor selbst aufgesprochen - als Hörbuch erschienen.
Chargaff wurde am 11. August 1905 in Tschernowitz als Son eines Bankiers geboren. Nach dem wirtschaftlichen Ruin der Bank zogen die Eltern mit ihren beiden Kindern nach Wien. Die österreichische Hauptstadt betrachtet Erwin Chargaff noch heute als seine Heimat. Hier liegt sein Vater begraben. Von hier wurde seine Mutter ins "Nichts" deportiert.
1933 emigrierte Erwin Chargaff nach Frankreich, wo er am Institut Pasteur arbeitete. und Von dort floh er 1935 weiter nach New York. Hier blib er als Professor für Biochemie an der Columbia University. Dort hatte er zwischen 1935 und 1940 maßgeblichen Anteil an der Entschlüsselung des Genoms.
"Seit meinem sechsten Jahre blickten meine Eltern nach unten zu mir auf", erinnert sich Chargaff. "Später, als ich älter war, betrachtete ich die Naturwissenschaften als Zuflucht vor den Greueln. Doch die Greuelsind zu mir zurückgekehrt."
So beginnt Chargaff seine "Selbstbiographie" im Jahr 1945 mit dem Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Kein Mensch - so meint er - habe das recht, den Tod so vieler Menschen zu verfügen. Mit ihrer Mitwirkung an diesem Massenmord hätten die Naturwissenschaften eine Schuld auf sich geladen, die sie nie wieder loswerden könnten. Sie seien zu einer "Maschine" verkommen, die Probleme löst, indem sie neue, noch größere Probleme schafft. Mit der Natur haben die gegenwärtigen Naturwissenschaften seiner Ansicht nach nichths zu tun.
Diesen Naturwissenschaften räumt Chargaff nur noch eine Zukunft von höchstens 100 Jahren ein. Wegen ihrer Nützlichkeit für den Krieg und die Wirtschaft hätten sie sich eine Macht erworben, der nur eine Katastrophe entgegenwirken könne. Es sei erstaunlich, dass die Menschheit über die technischen Mittel verfüge, zum Mond zu reisen und über das Leben auf dem Mars nachzudenken, das Leben auf der Erde aber immer unmenschlicher werde.
Chargaffs "Selbstbiographie" - wie der Autor seine Aufzeichnunngen nennt - gerät zur schonungslosen Abrechnung mit der "diabolischen Dialektik der Naturwissenschaften". Der Gen-Forscher rechnet aber nicht nur mit den Wissenschaftlern und Politikern ab, sondern auch mit sich selbst. Auf die Frage seines Alter-Ego, ob er jemals ein Wunder miterlebt habe, antwortet er zunächst mit "Nein!". Dann berichtigt er sich: Er habe miterlebt, dass jemand ein großer Mann geworden sei, der in seinem Leben noch nie einen einzigen eigenen Gedanken im Kopfe gehabt habe.
Das alles liest Chargaff mit brüchiger Stimme vor. Manchmal verschluckt er eine Silbe, oder sein Atem wird schwer. Man hört, wie er mit Papieren raschelt. Im Hintergrund ist der Straßenlärm vor seiner Wohnung in new York zu vernehmen. All das erschwert das Zuhören zunächst, verleiht dem Gesagten aber dann eine ungeahnte Eindringlichkeit. Hier spricht ein alter Mann, der nicht etwa ein perfektes Hörbuch produzieren will, sondern der den Menschen seine Besorgnis über die Zukunft mitteilen möchte.
Etwas störend wirken musikalische Unterbrechungen , die das ganze Hörbuch unnötig in die Länge ziehen. So schön die Musik von Johann Sebastian Bach auch ist, hier ist sie fehl am Platze. Uneingeschränkten Vorrang sollte auf dieser CD die Meinung des Wissenschaftlers haben, der das "Feuer des Heraklit" entdeckt hat und sich nun um die Zukunft sorgt.
Man merkt der Lesung an, dass Chargaff nicht nur über eine umfassende Bildung verfügt, sondern auch über die Liebe zu den Wörtern. Den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt hat der große alte Mann der gentechnik 1984 zu Recht erhalten. Mit scharfen Worten brandmarkt er die Selbsstgefälligkeit von Wissenschaftlern, die nicht verstehen, was sie tun, aber dennoch hastig voranpreschen.
So ist es gerade seine Selbstcharakterisierung, die das kritische Resümee des genialen Forschers so hörenswert macht: "Mein ganzes Leben habe ich versucht, zu rufen: Wacht auf, wacht auf!"

Erwin Chargaff, "Das Feuer des Heraklit"
Gelesen von Erwin Chargaff
Musik: Johann Sebastian Bach
1 CD, gesamtdauer 67.28 Minuten
Verlagsgemeinschaft Ernst Klett Verlag
ISBN: 3-935125-18-6
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