In dem kleinen Tonstudio herrscht eine vertraute, fast intime Atmosphäre. Hier im Keller ist deutlich kühler als im Büro, zwei Etagen höher. Durch labyrinthartige Gänge und Räume voller Gerümpel und archivierten Tonträgern hat uns Hans Eckardt in das kleine Zimmer mit der Trennwand geführt. Gabriele Blum nimmt auf der einen Seite des geteilten Studios Platz, während Eckardt und ich die Tür auf der anderen Seite hinter uns schließen. Durch das Glasfenster kann ich beobachten, wie Blum die Kopfhörer aufsetzt und das Mikrofon austestet. Ich lasse mich auf einem Stuhl in der Ecke nieder und lehne mich erwartungsvoll zurück.
Ein Hörbuch soll an diesem Samstag aufgenommen werden. Vom "Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen" an der Bahnhofstraße in Marburg werden die akustischen Bücher nicht nur vertrieben, sondern selbst hergestellt. Diesmal wartet ein Kriminalroman auf seine Umsetzung.
"ïEin Mord wird angekündigtï - von Agatha Christie", beginnt Blum, kaum dass sie sich den Stuhl zurecht gerückt hat. Mit den ersten Zeilen des Romans spricht sie sich warm. Auch Eckardt hat inzwischen seine Kopfhörer aufgesetzt und pegelt jetzt die Lautstärke ein. "Wir nehmen einfach die Einstellungen vom letzten Mal", kündigt er an, indem er den entsprechenden Knopf drückt und ins Mikrofon spricht.
Ich merke es den beiden deutlich an, dass sie längst aufeinander eingespielt sind. An die Anzahl der Hörbücher, die Blum unter der Regie von Eckardt schon gesprochen hat, kann sie sich nicht genau erinnern: "Vielleicht vier oder fünf?"
Den Verlag hat Eckardt 1987 gegründet. Damals war er Leiter der Deutschen Blinden-Hörbücherei (DBH) in Marburg. Sein Verlag war einer der ersten, der sich professionell mit gesprochener Sprache beschäftigt hat. Das Hörbuch galt bis zu dieser Zeit als bloßes Hilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte. Texte wurden oft aus reiner Zweckmäßigkeit und ohne Sinn betonenden, künstlerischen Ausdruck umgesetzt.
"Nicht erklärend, sondern mehr in die Erzählung gehen. Und beim zweiten Absatz ein bisschen Farbe reinbringen." Eckardt ist schon in seinem Element als Regisseur, während Blum noch beim Warmlesen ist. Trotz der anfänglichen Kritik kommt schon bei ihrer Interpretation der ersten Zeilen deutlich zum Ausdruck, dass sich die freiberufliche Theater- und Fernsehschauspielerin bereits im Vorfeld intensiv mit dem Text beschäftigt hat.
Auf ihrem Skript stehen unzählige Anmerkungen. Die meisten davon betreffen die Umsetzung der verschiedenen Rollen. Zur Veranschaulichung hat sie sich aussagekräftige Wörter wie "hui bui", "sexy" oder "Huhn" neben die entsprechende wörtliche Rede gekritzelt. "Manchmal verzweifle ich am Personenreichtum", seufzt sie und ist sich der dadurch entstehenden Verantwortung bewusst. Durch die Stimminterpretation könnte der Mörder möglicherweise zu früh verraten werden.
Nachdem alle Voreinstellungen getroffen sind, drückt Eckardt auf Aufnahme, und Blum legt los. Nach den ersten beiden Absätzen unterbricht er sie höflich: "Sie sollten nach den Aussagen atmen, nicht wenn sie gerade müssen", merkt er an. Blum ist inzwischen hochkonzentriert. Während sie liest, stellt sie immer wieder Blickkontakt zu Eckardt her und gestikuliert mit den Händen, als könne sie ihren Worten dadurch mehr Ausdruck verleihen. Fast habe ich das Gefühl, sie erzählt die Geschichte einem imaginären Publikum anstatt dem Mikrofon. Schon beim zweiten Anlauf ist Eckardt sichtlich zufrieden: "Meine Atemeinwände haben sich erübrigt."
Vorlesen stellt für Eckardt eine ganz und gar eigenständige Kunst dar. Mit der Kunst des Schauspielens ist das seiner Meinung nach nicht zu vergleichen. "Durch die Interpretation eines Textes im Tonstudio hat man viel mehr Möglichkeiten für Nuancen im sprecherischen Ausdruck", erklärt er mir. Ein Bühnenschauspieler müsse dagegen Raum füllend sprechen. Außerdem interpretiert er meist nur eine Rolle, während sich der Hörbuchsprecher in viele verschiedene Rollen hineinfinden muss. "Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass ein Schauspieler, der ein guter Vorleser ist, eine Doppelbegabung hat", bemerkt Eckardt.
Blum liest nun lange Passagen am Stück ohne jegliche Unterbrechung. Regie-Einwände gibt es nur noch sehr selten. Meist sind es sowieso nur Kleinigkeiten. Auch Versprecher treten bemerkenswert wenig auf.
"Jemandem vorlesen heißt, einen Text zu lesen, ihn zu vergessen, im selben Bruchteil einer Sekunde neu zu erfinden und dann sozusagen spontan zu erzählen", hat mir Eckardt zuvor erläutert. Nur auf diese Weise können auch Persönlichkeit und Lebenserfahrung des Sprechers in den Text mit einfließen.
"Das war mir ein bisschen exzentrisch gemurmelt", unterbricht er nun Blum. "Wie soll ich denn als Huhn murmeln?", fragt sie sich laut und versucht es erneut. Dieses Mal trifft sie den Ton. "Sie lässt die meisten Inquit-Formeln weg", erwähnt Eckardt beiläufig. Inquit-Formeln, das sind Formulierungen wie sagte, mahnte oder fragte. "Das Weglassen dieser Formeln macht den Text dichter", fügt er hinzu.
Eckardt schmunzelt bei Blums Vortragsweise und dreht sich zu mir um: "Wie gefällt es Ihnen?" Breit grinsend flüstere ich begeistert: "Ganz toll!" Er lächelt zustimmend und widmet sich wieder seiner Arbeit. "Ganz wunderbar, wie Sie das machen", lobt er Blum über das Mikrofon. Ganz automatisch nicke ich heftig.
Von seiner Arbeit ist Eckardt sichtlich begeistert. Als Leiter der DBH hat der gelernte Schauspieler und ehemalige Theaterregisseur auch Sprecher geschult. "Inzwischen sind fast alle Sprecher, die ich in der damaligen Zeit ausgebildet habe, professionelle Sprecher beim Rundfunk und beim Fernsehen", fügt er ganz selbstverständlich hinzu. Spezielle Schulen für Hörbuch-Sprecher gibt es noch nicht. Aber Eckardt ist sich ganz sicher: "Das wird kommen."
Ich lausche gebannt der Geschichte und bin froh, dass ich das Buch bisher nicht gelesen habe. Die Spannung, die dadurch entsteht, ist nicht nur Agatha Christie zu verdanken. Gabriele Blum interpretiert derart facettenreich und spannungsgeladen, dass ich Gänsehaut bekomme.
Eckardt vergleicht den geschriebenen Text gerne mit einer Partitur, die Stimme eines Sprechers mit dessen Instrument. "Der Sprecher muss sein Instrument Stimme genauso schulen wie der Solist beispielsweise seine Geige". Davon ist er überzeugt.
Dass Blum ihr Instrument beherrscht, ist offenkundig. Drei Stunden liest sie nun schon ununterbrochen. Erst jetzt beginnt ihre Konzentration nachzulassen. Die Versprecher häufen sich, und die Stimme versagt des Öfteren. Die Hälfte des Buches ist schon geschafft. Endlich gönnen sich die Beiden eine Pause. Ich kann leider nicht bis zum Schluss bleiben, deshalb heißt es: Jetzt oder nie. Nicht ohne Wehmut gebe ich beiden zum Abschied dankend die Hand.
"Soll ich Ihnen den Mörder verraten?", ruft mir Blum noch augenzwinkernd zu. Für einen kurzen Moment bin ich geneigt, zuzustimmen, halte mich aber zurück und antworte stattdessen lachend: "Danke, ich werde mir lieber das Hörbuch besorgen!"
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